Incom ist die Kommunikations-Plattform der Fachhochschule Potsdam

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LESS QUANTIFIED SELF – MORE QUALIFIED YOU.

LESS QUANTIFIED SELF – MORE QUALIFIED YOU.

Konzepte und Gedanken zu visueller und haptisch
erfahrbarer Kommunikation von Körperdaten

Die Selbstvermessung oder Quantified Self Bewegung bezeichnet das aus dem Individuum hervorgehende, freiwillige und regelmäßige Erheben von Messwerten. Dabei handelt es sich meist um automatische und chronologische Erfassung biologischer, physischer und psychischer Messwerte wie beispielsweise das Körpergewicht, oder das Stresslevel, aber auch um umwelt- und verhaltensbezogene Daten, wie z.B. den eigenen Standort, die zurückgelegte Strecke oder die Arbeitszeit.

Diese Masterarbeit basiert auf der Hypothese, dass das menschliche Körpergefühl und dessen Intuition durch die heute vorherrschende, stark durch Quantifizierung, d.h. durch Zahlen, Diagramme und lückenlose Dokumentation geprägte Form der Selbstvermessung beeinflusst werden können und sucht Wege diesen Kreislauf aus der Sicht einer Interface Designerin zu durchbrechen. Am Ende stehen zwei Entwürfe in Form von interaktiven Prototypen, die die gewonnenen Erkenntnisse und Überlegungen widerspiegeln sollen.

Die Zahl ist objektiv, der Mensch ist subjektiv. Letzterer lässt sich nicht auf einem Nenner reduzieren. Durch die Selbstvermessung wird unser Körpergefühl und unsere Intuition beeinflusst. Sie versucht, dem Menschen einen Nenner zuzuschreiben. Plötzlich vertrauen wir der Technik, aber nicht mehr unserer eigenen Intuition.

Less Quantified Self, More Qualified You.

01 Theoretische Auseinandersetzung

Die Arbeit beginnt mit einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung. Der Fokus liegt darauf mein Masterthema aus anderen größtenteils geisteswissenschaftlichen Perspektiven zu analysieren und zu kritisch zu beleuchten. Dieses Kapitel gibt Antworten auf die Frage nach dem Grund der freiwilligen Selbstvermessung und versucht subjektive, sowie potentielle gesellschaftlichen Folgen aufweisen. Eine Folge beschreibt die Beeinflussung der Intuition und des menschlichen Körpergefühls durch die heute vorherrschende, stark durch Quantifizierung geprägte Form der Selbstvermessung.

Neben dem Phänomen der Selbstvermessung beschäftigte sich der dieses Kapitel damit, den Begriff des Körpergefühls zu definieren. Neben wahrnehmungspsychologischen und neurologischen Perspektiven, trugen vor allem die Antworten der 100 TeilnehmerInnen einer im Rahmen der Masterarbeit durchgeführten Online-Umfrage dazu bei, eine umfassende Begriffsdefinition zu erlangen.

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02 Analyse

Marktanalyse und Trendanalyse

Die Marktanalyse zeigt, dass gerade bei bestehenden Systemen die Wiedergabe der Körperwerte in rein quantitativer Form vorherrscht. Auch der sehr hohe Detailgrad der Informationen, sowie ein Fokus auf lückenlose chronologische Dokumentation und der klare Trend zu softwarebasierten Anwendungen zeigen, dass die meisten auf dem Markt befindlichen Lösungen genau über die Merkmale verfügen, die das Potential in sich tragen die Intuition und das menschliche Körpergefühl beeinflussen können.

Erst die auf die Marktanalyse folgende Trendanalyse gibt Zuversicht, dass es in Zukunft auch Wege geben kann, Anwendungen zu entwickeln, die der Intuition und dem menschlichen Körpergefühl zuträglich sind bzw. sie nicht indirekt verändern oder beeinflussen werden.

Im Rückblick auf den theoretischen Teil sollen Anwendungen zur Selbstvermessung nicht über die rein quantitative Wertangabe kommunizieren, sondern ein besonders Augenmerk auf die haptisch wahrnehmbare und abstrakte visuelle Wiedergabe der gemessenen Körperwerte legen. Diese Wiedergabeformen entsprechen im Gegensatz zur reinen Zahlenangabe dem menschlichen Körpergefühl und lassen ausreichend Interpretationsraum für Bauchentscheidungen und Intuition.

Interview

Ein weiterer Teil der Analysephase war das Interview mit einer Biofeedbacktherapeutin. Die Biofeedback-Therapie ist eine Form der Verhaltenstherapie, die ebenfalls auf dem Auslesen von Körperwerten basiert. Sie dient dazu das Bewusstsein der Patienten für körperliche Reaktionen zu schärfen und deren Verhalten in bestimmten Situationen zu beeinflussen.

Ein Schwerpunkt der Biofeedback Therapie ist das direkte Feedback der Körperwerte in der Situation, in der beispielsweise eine Stressgrenze überschritten wird. Eine chronologische Dokumentation der Werte macht auch bei den mittlerweile mobilen Biofeedback-Anwendungen keinen Sinn. Laut Felicia Kuhn würde durch eine chronologische Dokumentation der ohnehin bei den Patienten bereits nachzuweisende Drang zu Perfektionismus und Selbstoptimierung verstärkt werden

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03 Konzeption

Materialassozationen

Die Konzeption ist geprägt durch den Versuch, Konzepte zur Selbstvermessung zu entwickeln, die über haptisch wahrnehmbare und abstrakte visuelle Wiedergabeformen kommunizieren. Der Fokus liegt dabei zunächst auf haptisch wahrnehmbaren Material- und Oberflächentransformationen, die dazu dienen sollen, verschiedene Körperwerte widerzuspiegeln.

In einem Brainstormingworkshop entstanden folgende Assoziationen:

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Bild 1, Stress:

angespannt (links): rau, spitz, störend, kratzig entspannt (rechts): glatt,stumpf, geschmeidig, fein

Bild 2, Körpertemperatur:

heiß (links): zähflüssig, träge, glühend, rot kalt (rechts): starr, fest, flimmernd, blau

Bild 3, Atmung:

tief (links): voluminös, prall, konkret, konzentriert flach (rechts): leer, schlaff, abstrakt, diffus

Bild 4, Muskelanspannung:

angespannt (links): eng, straff, unflexibel, hart entspannt (rechts):weit,schlaff, flexibel, weich

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Materialexperiemente

In Folge des Brainstormingworkshops war ausreichen Input vorhanden um erste haptisch und visuell erfahrbare Material- und Oberflächentransformationen zu testen. In dieser Phase lag die Konzentration bereits auf folgenden Körperwerten:

Bild 1-4, Atemtiefe: prall,voluminös-leer,schlaff:

1: Papier- bzw. Falttransformationen 2: siehe 1 3: Expansion mit Hoberman Sphere 4: Versuche mit aufblasbaren Volumen-Silikonmodellen

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Bild 5-8, Stresslevel: rau-glatt

5: Papier- bzw. Falttransformationen 6: Noppenmaterialien 7: Schnittstruktur 8: Faltrelief

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Bild 9-12: Muskelanspannung: eng-weit

9: Raffungen mit Papier 10: Raffungen mit Gummiband 11: Integrierte Raffung zusammengezogen 12: Integrierte Raffung offen

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Co-Creation

Im weiteren Verlauf der konzeptionellen Phase werden erste grobe Konzepte in mehreren Co-Creation Workshops evaluiert und verfeinert. Hier geht es neben der Bewertung erster Material- und Oberflächentransformationen auch um die Frage, ob die Wiedergabe über ein Wearable oder Produkt stattfinden könnte, oder welcher Position des Körpers die Wiedergabe eines bestimmten Wertes zugeordnet wird.

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Am Ende der Konzeptionellen Phase stehen zwei Grobkonzepte die im nun folgenden gestalterischen und protptypischen Teil der Masterarbeit weiter verfeinert werden.

04 Gestaltung

Insbesondere bei der Erarbeitung des ersten Konzeptes, eines interaktiven Sportoberteils zur Wiedergabe des Körperwertes der Muskelanspannung, ist es wichtig, Inspirationen und Trends aus der Sportmode zu berücksichtigen. Der Entwurf des zweiten Konzeptes, ein Produkt zur Wiedergabe des individuellen Stresslevels, ist stark durch seine Konstruktion und die Grundidee, eine Materialtransformation zwischen den Polen rau und glatt zu realisieren, geprägt. Hier bestand die Herausforderung maßgeblich darin, die gestalterische Emotionalität des Produktes zu gewährleisten.

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05 Prototyping

Hinter der Konstruktion der beiden Prototypen verbergen sich einige lösbare Rätsel und Hindernisse, die mich teilweise dazu zwingen, auf alternative Herstellungsverfahren und Lösungswege zurückzugreifen, um im Rahmen meines finanziellen Budgets und der mir zur Verfügung stehenden Bearbeitungszeit zu einer zufriedenstellenden Lösung zu kommen und trotzdem die Funktionalität der Prototypen zu gewährleisten. Dazu zählt beispielsweise die Anbringung von 580 Noppen auf einer Kugeloberfläche oder die vorab ungeahnte Komplexität der Motorsteuerung eines Kleidungsstückes.

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06 Erster Prototyp: ein interaktives Sportoberteil

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Die ermittelten Daten des Körperwertes Muskelanspannung werden durch eine physische Materialtransformation wiedergeben. Der Wert der Muskelanspannung wird haptisch und visuell für die TrägerInnen des Sportoberteils wahrnehmbar gemacht. Dies erfolgt, ohne die Verwendung einer digitalen Schnittstelle und als direktes Feedback auf die Veränderung des Wertes.

Durch das Zusammenziehen des Stoffes im Rückenbereich wird der Grad der Muskelanspannung über das Sportoberteil kommuniziert. Die haptisch über den gesamten Oberkörper wahrnehmbare physische Transformation zwischen den Polen weit und angenehm eng unterstützt die Haltung der TrägerInnen und untermalt das Gefühl einer mit sportlicher Betätigung assoziierten Agilität und Schnelligkeit. Zur Wiedergabe des Wertes wird keine Zahl, kein Diagramm und keine Statistik abgebildet. Die Wiedergabe des Wertes Muskelanspannung erfolgt stufenlos und erhält so den Interpretationsspielraum und ausreichend Freiraum für das individuelle Körpergefühl und die menschliche Intuition. Die Muskelanspannung wird auch visuell kommuniziert. Durch das Zusammenziehen wird an gut sichtbaren Stellen die im Oberstoff verarbeitete Schnittstruktur auseinandergezogen. Durch die Dehnung öffnet sich die Struktur und der farbige Unterstoff kommt zum Vorschein.

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07 Zweiter Prototyp: "Stressball"

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Die ermittelten Daten des Körperwertes Hautleitfähigkeit und damit des Stresslevels werden durch eine Materialtransformation zwischen einer glatten und rauen Oberflächentextur auf dem mit intelligenter Sensorik ausgestattetem Produkt physisch wiedergegeben. Der Wert wird haptisch und visuell erfahrbar gemacht. Dies erfolgt ohne die Verwendung einer digitalen Schnittstelle und über direktes Feedback.

Anhand der Länge der aus der Kugel herausstehenden Noppen wird das Stresslevel kommuniziert. Durch aktives Berühren der Kugel kann das Stresslevel haptisch erfahren werden. Durch Streicheln oder Drücken der Noppen wird analog zum klassischen Stressball Ablenkung von stressigen Situationen ermöglicht. Die Noppen reagieren auf diese Art der Berührung und verschwinden langsam oder analog zum sinkenden Stresslevel. Zur Wiedergabe des Wertes wird keine Zahl, kein Diagramm und keine Statistik abgebildet. Die Wiedergabe des Wertes Hautleitfähigkeit erfolgt stufenlos und erhält so den Interpretationsspielraum und ausreichend Freiraum für das individuelle Körpergefühl und die menschliche Intuition. Das Stresslevel wird ebenfalls visuell kommuniziert. Durch das Sichtbarwerden der am Rumpf eingefärbten Noppen verändert sich der Stressball von einer weißen zu einer farbigen Kugel.

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08 Anhang

Prozess und Methodik

  • Literaturrecherche
  • Online Umfrage (100 Teilnehmer)
  • Experteninterview (Biofeedbacktherapeutin)
  • Marktanalyse
  • Trendanalyse
  • Brainstorming Workshop (11 Teinmehmer)
  • Co-Creation Workshops (5x 2 Teilnehmer)
  • Materialexperimente/ Rapid Prototyping
  • Design Mood
  • Prototyping

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Empfehlenswerte Sekundärliteratur

  • Damasio Antonio, Selbst ist der Mensch, 3. erw. Aufl., München, 2010

  • Grundwald Martin, Beyer Lothar, Der bewegte Sinn, Grundlagen und Anwendungen der haptischen Wahrnehmung, Basel, Boston, Berlin, 2001

  • Han Byung Chul, Transparenzgesellschaft, Berlin, 2012

  • Haring Robin, Der überforderte Patient – Gesund bleiben im Zeitalter der Hightech Medizin, München, 2014

  • Heintz Bettina, Zahlen, Wissen, Objektivität, Wissenschaftssoziologische Perspektiven, erschiehen in Zahlenwerk, Wiesbaden, 2007

  • Schirrmacher Frank, Payback, 2. erw. Aufl., München, 2009

  • Schönhammer Rainer, Einführung in die Wahrnehmungspsychologie: Sinne - Körper - Bewegung, 2009

  • Selke Stefan Prof. Dr. , Life Logging – Wie die digitale Selbstvermessung unser Leben verändert, Berlin, 2014

  • Staigner Lisa, Kasper Beate u.v.m, Institut für Soziologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen, Das vermessene Selbst - Praktiken und Diskurse digitaler Selbstvermessung, 2014, online unter: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/59776

  • Swan Melanie, MS Futures Group,THE QUANTIFIED SELF: Fundamental Disruption in Big Data Science and Biological Discovery, Palo Alto, Juni 2013, online unter: http://online.liebertpub.com/doi/pdfplus/10.1089/big.2012.0002

Ein Projekt von

Fachgruppe

Design Master

Art des Projekts

Masterarbeit

Betreuung

foto: AT foto: Prof. Dr. Frank Heidmann

Entstehungszeitraum

Wintersemester 2015 / 2016

Keywords