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Die Kunst des Verweilens

Die Aufgabe dieses Projekts war eine Interaktion oder Intervention im Raum unter Verwendung einer Abformtechnik. Wir stürzten uns zunächst in Materialexperimente mit Gips. Dabei ließen wir uns von Hella Jongerius Arbeit „Long Neck and Groove Bottles“ inspiereren. Wir abstrahierten diese Arbeit hin zu einer Matrix aus welcher wir unser Projekt entwickelten. Dabei wurde immer deutlicher, dass sich aus unserer Ideenvielfalt vor allem das Interesse an dem urbanen, öffentlichen Raum herauskristallisierte. Letztlich entwickelte sich aus dem Besuch und der Analyse der Friedrichstraße unsere verwirklichte Idee: eine Hockerserie aus Beton mit auswechselbaren Sitzflächen.

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Die Beschleunigung von heute hat ihre Ursache ebenfalls in ­der allgemeinen Unfähigkeit, zu schließen und ab­zuschließen. Die Zeit stürzt fort, weil sie nirgends zum Schluß und zum Abschluß kommt, weil sie von keiner temporalen Gravitation gehalten wird. Die Beschleunigung ist also der Ausdruck eines temporalen Dammbruches. Es existieren keine Dämme mehr, die den Fluß der Zeit regeln, artikulieren oder rhythmisieren, die die Zeit halten und verhalten können, indem sie ihr einen Halt geben, einen Halt in seinem schönen doppelten Sinne. Wo die Zeit jeden Rhythmus verliert, wo sie halt- und richtungslos ins Offene verfließt, verschwindet auch jede rechte oder gute Zeit. Byung-Chul Han – Der Duft der Zeit

Byung-Chul Han (2009): Duft der Zeit: ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, transcript, Bielefeld, S. 10.

E I N L E I T U N G

Im schnelllebigen Großstadtleben, in das sich auch der Alltag an der FH eingliedert, wird die von Byung-Chul Han beschriebene Beschleunigung deutlich spürbar. Alles fließt, aber zugleich verschwimmt auch alles, wird unverbindlich, flüchtig, vielschichtig. Der White Cube ist als reiner Körper eindeutig und unmissverständlich. Er ist Anker und Ruhepol zwischen tausend Facetten und zugleich Raum für Kreativität. In unserem Projekt wird er zum Grey Cube aus Beton - ein gleichbleibendes, festes Fundament, auf dem die Kreativität Raum hat, ins Offene fließt und tanzt.

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I N S P I R A T I O N

Hella Jongerius LONG NECK AND GROOVE BOTTLES Jahr 2000 Material: Porzellan, Glas, Plastiktape Maße in cm: 50 x 14, 44 x 18

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Die Aufgabe unseres Gruppen-Projekts war eine Interaktion oder Rauminstallation unter Verwendung einer Abformtechnik. Wir stürzten uns zunächst in Materialexperimente mit Gips. Dabei ließen wir uns von Hella Jongerius Arbeit „Long Neck and Groove Bottles“ inspirieren. An den Vasen von Hella Jongerius hat uns besonders gefallen, dass diese zwei Materialen miteinander verbinden, die eigentlich nicht miteinander zu verbinden sind. Der untere Teil der Vasen besteht aus Porzellan und der obere aus Glas. Beide werden bei unterschiedlichen Temperaturen gebrannt und lassen sich nicht verknüpfen. Die Verbindung von beiden Materialen schafft Hella Jongerius durch Tape mit der Aufschrift „Fragile – Handle with care“. Der Witz und auch die leichtfüßige, spielerische Poetik dieser Arbeit hat uns fasziniert. Die Farben des Tapes, von Glas und Porzellan sind jedoch nicht zufällig, sondern über Farbfeldstudien im Vorfeld entstanden. Durch das Tape wird der unvollkommene Charakter des Objekts betont und gleichzeitig gerade dadurch verbunden. Aus dieser Analyse entwickelten wir die Matrix auf der folgenden Seite, bestehend aus sechs Begriffen.

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R E C H E R C H E

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H E R A N G E H E N S W E I S E

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P R O Z E S S

Die Begriffe der Matrix nutzten wir als Ausgangspunkt für unsere Materialexperimente. Zunächst auf dem Wege der Imitation. In der ersten Phase des Experimentierens wurde deutlich, dass uns vor allem die Kombination von unterschiedlichen Materialien mit Gips interessierte. Wir kombinierten Gips mit Baumwolle, Zahnstochern, Samt, Draht, Plastik, Alufolie, Tinte, Acrylfarbe und Luftballons.

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Dabei faszinierte uns einerseits die Kombination von Materialien mit unterschiedlichen Anmutungen, wie Fell und Gips, Draht und Gips oder Plastik und Gips. Außerdem experimentierten wir mit Oberflächenstrukturen, womit wir zunächst weiterarbeiten wollten. Eine Idee war eine Oberfläche, die weich aussieht aber hart ist.

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Die Idee entwickelt sich An diesem Punkt dachten wir zuerst an ein Kissen aus Gips, das den Betrachter täuscht, indem es vorgibt weich zu sein. Wir dachten immer häufiger über Sitzgelegenheiten nach. Parallel dazu entsprang aus einer Farbfeldrecherche von Berlin bei Nacht die Idee, unser Interesse am urbanen Raum mit Sitzgelegenheiten zu verbinden. Zur weiteren Vertiefung dieses Themas fuhren wir in die Friedrichstraße als paradigmatischen urbanen Raum und nahmen dort Material-, Struktur- und Farbproben.

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Berlin bei Nacht - eine Farbinspiration

Die Idee spitzt sich zu In der Friedrichstraße fiel uns vor allem auf, dass sie ein sehr unruhiger Ort ist, der nicht zum Verweilen einlädt. Die Menschen, die dort sind, nutzen die Friedrichstraße vor allem zum Umsteigen, haben daher auch keine Zeit und sind häufig gestresst. Diese Situation nutzen wir als Ausgangspunkt für unsere Idee.

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Unterwegs in Berlin

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Materialproben gesammelt an der Friedrichstraße

Ein Ort zum Bleiben soll geschaffen werden. Eine Sitzgelegenheit kann dies leisten (und zugleich Metapher dafür sein). Zuerst wollten wir eine Installation zum Thema Verweilen an der Friedrichstraße entwerfen, um darauf aufmerksam zu machen. Doch dann fiel uns auf, dass es an der Fachhochschule eine ähnliche Situation gibt. Das strukturelle Problem einer Pendler-Hochschule kann mit dem ständigen Durchgangsverkehr der Friedrichstraße im Punkt Verweilen verglichen werden: Es gibt wenig Bereitschaft, an der Fachhochschule zu verweilen. Aus diesen Gedanken entwickelte sich die finale Idee einer Hockerserie.

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Beton als Wagnis Während der Experimente mit Gips haben wir als Gruppe festgestellt, dass wir gerne bei einem möglichst ursprünglichen Abgussverfahren bleiben möchten. Da Gips eine zu geringe Belastungsgrenze aufweist, haben wir uns für Beton entschieden, ein Material, das wir als sehr stabil und ursprünglich (rau, unfertig) empfanden. Uns wurde bezüglich Zeit und Aufwand davon abgeraten - doch wir wollten es unbedingt ausprobieren.

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Formfindung der Hocker

Beton als Fundament Unsere ersten Ideenskizzen sahen vor, die Sitzfläche der Hocker aus Beton zu gießen. Somit wäre also der schwerste Teil des Hockers im oberen Bereich gewesen. Von statischen Problemen abgesehen, störte uns die durch die Gewichtsverteilung ausgestrahlte Instabilität der Hocker. Wir stellten uns die Frage, in welcher Weise wir das Gewicht des Betons als Qualität in das Objekt einbinden könnten. Im weiteren Prozess kam ein Modell zustande, bei dem die Füße des Hockers in Beton eingegossen waren. Von da an war uns plötzlich klar, dass der Teil aus Beton unten sein sollte - als Symbol für das Verweilen mit den Füßen fest am Boden.

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Gleichgewichtsverschiebung: Hocker mit modularem Betonsockel

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In der Formfindung wählten wir schließlich den Kubus - für uns die ursprünglichste Form des Hockers - als Ausgangsform und modifizierten ihn durch Subtraktion zu einem Modul, welches als Fundament und Basis für die weitere Gestaltung dienen sollte. Durch seine Massivität und das Gewicht steht das Betonmodul als Metapher für das Verweilen.

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Bauen der Gussform

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Der erste Guss

Beton als Baustoff Beton ist eine Mischung aus Sand bzw. Kies in verschieden feiner Körnung und Zement als Bindemittel. Es gibt verschiedene Philosophien zu Beton im Möbelbau, teilweise werden sogar spezielle (teure) Mischungen empfohlen. Wir haben uns nach einigen Recherchen für einen normalen Estrichbeton aus dem Baumarkt mit relativ feiner Körnung entschieden. Die Negativform bauten wir aus laminierten Spanplatten, versiegelten Kanthölzern und Blechplatten. Zum Entformen konnte die Form auseinandergeschraubt werden. Beim Gießen war präzises Arbeiten und geduldiges Stopfen notwendig, um Luftlöcher im Beton zu reduzieren und somit eine möglichst glatte Oberfläche zu erzielen.

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E R G E B N I S

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Das Endergebnis sind mehrere Betonfundamente mit austauschbaren Sitzflächen. Die Module können unterschiedlich kombiniert und die Sitzflächen zum Teil auch unabhängig vom Sockel genutzt werden.

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Renderings der Betonhocker

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Schematische Zeichnungen und Kombinationsmöglichkeiten der Module

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Die Sitzflächen als Zusatzmodule Die Sitzflächen entwickelten wir in der Theorie jeweils unabhängig voneinander, was schlussendlich in ihrer Vielfalt zu erkennen ist. Prinzipiell ging es dabei darum, die Grundform des Betonmoduls aufzugreifen oder zu ergänzen/erweitern. Hierfür kamen die Leerräume der abgeschrägten Ecken, der Hohlraum in der Mitte oder die Höhe in Frage.

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Die Sitzflächen als Metaphern Die Sitzflächen greifen verschiedene Aspekte des Verweilens in der FH Potsdam auf. Zudem haben sie unterschiedliche Eigenschaften und erfüllen unterschiedliche Zwecke. Während das gleichbleibende Betonmodul unseren Gruppenkonsens darstellt, spiegeln sie das wieder, was die einzelnen Mitglieder persönlich aus dem Thema gezogen haben und was ihnen am wichtigsten war.

Fahrradschläuche: Der lange Weg - ein Grund gegen das Bleiben

Wohnzimmertisch: Die FH als zweites Zuhause - oder auch nicht

Sternenhimmel-Lampe: bis in die Nacht beschäftigt

Schaumhocker (Wolken): Tagsüber beschäftigt

Unsitzbare Gipsinstallationen: Nicht zur Ruhe kommen, nicht verweilen

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unsitzbare Sitzgelegenheiten

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Dieser Flyer fand sich im Hockerinneren

Gedanken zum Schluss Unsere Gruppe war eine derjenigen, die am längsten gebraucht haben, um sich auf eine Richtung festzulegen. Und selbst im Ergebnis spiegelt sich noch das Unterschiedliche und Vielfältige, was uns den ganzen Prozess über begleitet hat, wider: wir haben uns mit Feuer­eifer in die Experimente gestürzt und waren alle sehr motiviert. Zu allen Themen, die wir gestreift haben, kamen uns unzählige Ideen, die wir gerne verfolgt hätten. Das führte uns schlussendlich in eine Phase der Stagnation, da wir inmitten von Richtungen standen und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sahen. Schlussendlich haben wir uns eine Woche lang gar nicht getroffen oder ausgetauscht und nach dieser Ruhephase, diesem kurzen Verweilen bei sich selbst und bei der Sache an sich, entstand spontan die Idee, die uns zum Ergebnis führte. Keine Kreativität entsteht im stillen Kämmerlein und ohne Abwechslung. Aber ohne das Innehalten, das Verweilen, kann sie ebensowenig blühen. Dieses Prinzip hat uns in unserem Prozess begleitet und spiegelt sich schlussendlich genau so in unserem Ergebnis wieder.

Think inside the grey cube

Verweilen heißt bleiben, genießen, Gemüt­lichkeit, Ruhe und Gelassenheit.

Inspiriert wurde diese Arbeit zum Verweilen durch das geschäftige Treiben einiger Orte Berlins wie der Friedrichstraße. Die Studierenden nehmen diese Stimmung aus Berlin mit nach Potsdam. Auf dem Campus trifft man die Bereitschaft zum Verweilen nur in wenigen, kostbaren Augenblicken an. Diese Momente sind es, die die Inspiration zum Entfalten bringen. Auf dem Campus, auf dem Ideen verwirklicht werden, sollten sie auch geboren werden. Das braucht jedoch Zeit. In diesem Sinne, nehmt Platz, nehmt euch Zeit, um diesen Ort mit eurer Anwesenheit mitzu­gestalten.

Fachgruppe

Gestaltungsgrundlagen

Art des Projekts

Studienarbeit im ersten Studienabschnitt

Betreuung

foto: Prof. Alexandra Martini

Zugehöriger Workspace

WHITE CUBE

Entstehungszeitraum

Wintersemester 2014 / 2015